Martin Rost
Publikationen

Zur Kritik des Wissenschaftssystems - die Informationsgesellschaft als Vollendung des industriellen Projekts

Martin Rost

(Dieser Text in eine leicht überarbeitete Version meines Referats, das ich anläßlich der IMD-Tagung über "Hochschulen in der Informationsgesellschaft" am 14.6.1997 in Berlin hielt. Er enthält zudem einige Passagen, die ich für den Vortrag gestrichen hatte, um im Zeitlimit zu bleiben. Erschienen ist der Text in: Bulmahn, Edelgard (Hrsg.), 1997: Hochschulen in der Informationsgesellschaft - Initiative "Informationsgesellschaft - Medien - Demokratie", Berlin, November 1997
(http://www.maroki.de/pub/sociology/mr_kdh.html)

Ich möchte drei Bemerkungen zum Kontext vorausschicken, in dem die Hochschulen bzw. das Wissenschaftssystem meiner Ansicht nach stehen. Dann komme ich auf die aktuelle Situation der Wissenschafts- und Hochschulkrise zu sprechen.

  1. Die Informationsgesellschaft wird politisch gern noch immer als Vision ausgewiesen. Dabei ist sie lange schon Realität. Die Mechanisierung des Buchdrucks, die bekanntlich mit Gutenberg etwa um 1450 ihren Ausgang nahm, war eine grundlegende Voraussetzung dafür, daß in gedruckten Texten so etwas wie ein überbordend-luxurierender Kollektivdiskurs zur Deutung und Veränderung der Welt entstehen konnte. Die Entwicklung von Werkzeug- und Dampfmaschine, mit der die Industrielle Revolution einherging, gründen auf Verwendung von Artikeln und Büchern, die allgemein zugänglich waren und sich an ein anonymes Lesepublikum richteten (vgl. Giesecke 1990; 1992).

    Was bislang allerdings noch aussteht ist die Vervollständigung der Industrialisierung der Informationsgesellschaft. Insbesondere die Wissenschaftler und Autoren, die Lektoren, Künstler, die Apotheker und Pharmazeuten, Rechtsanwälte, Richter und Staatsanwälte, Ingenieure, Lehrer, Manager, Politiker, aber auch die Informatiker und Programmierer arbeiten allesamt in ihren Bereichen in weitgehend vor-industrialisierten, zunftartig organisierten Produktionsverhältnissen.

  2. Und wir haben sie ja ebenfalls längst, die von den technikphoben Literaten und Essayisten genüßlich projizierte Apokalypse namens Informationsflut. Die Informationsflut entstand nicht erst mit PC und Datennetzen. Beschränkt man sich allein auf die Publikationen im wissenschaftlichen Bereich, so zählte man beispielsweise um 1800 etwa 100 wissenschaftliche Journale, um 1900 waren es bereits 10 Tausend, am Ende des 20. Jahrhunderts werden es knapp 1 Million sein (vgl. Wiiers 1994: 1-9). Und in dieser Zählung sind die wissenschaftlichen Bücher noch nicht enthalten! Etwa alle 16 Jahre verdoppelt sich derzeit die Anzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen (s. Cummings 1992).

    Nicht die Flut an Mitteilungen ist das Problem, sondern es fehlen von jeher Automationstechniken zum Filtern dieses evolutionär höchst wünschenwerten Informationsüberangebots. Bislang filtern WissenschaftlerInnen allein im primitiven Modus des Ignorierens. Stünden digitale Filtertechniken zur Verfügung, dann könnten sie das Maß ihrer Ignoranz zumindest besser abschätzen. Reflektierte Originalität kann man heute allenfalls in homöopathischen Dosen beanspruchen. Ungebundene, frei flottierende Mitteilungen sind ein Kennzeichen einer Informationsgesellschaft und sie korrelieren aufs beste mit Demokratie, leistungsfähiger Wissenschaft und funktionierender Ökonomie.

  3. Und wir haben mittlerweile ebenfalls längst den Zustand erreicht, daß professionell orientierte Texteschreiber ganz überwiegend mit Computern schreiben. Der PC ist ungefähr seit Ende der 80er Jahre breit akzeptiert. Die Bildungsbürger haben inzwischen mit leichtem Erstaunen feststellen dürfen, daß die binäre Logik der Rechenmaschinen doch nicht direkt ins Hirn durchschlägt und automatisch zu Schwarz-Weiß-Denken führe - wie das Feuilleton der 80er Jahre noch argwöhnte. Seit Mitte der 90er Jahre gelten zudem die weltweit operierenden Computernetze wie das Internet als grundsätzlich sozial etabliert. Allein auf Deutschland bezogen verfügten im Februar 1996 etwa 1.7 Millionen Deutsche über eine E-Mail-Adresse - das ist zwar eine alte, aber dafür verläßliche Zahl -, derzeit wird die Anzahl auf etwa 3 Millionen geschätzt.

    Trotzdem nun überall Computer herumstehen: Das Hinstellen eines modernen technischen Fuhrparks besagt nichts über dessen angemessene Nutzung. Speziell im Bereich der Wissenschaften wird der PC überwiegend noch immer im Modus einer komfortablen Schreibmaschinensimulation benutzt. Und mit E-Mail und World-Wide-Web wird kaum mehr als wenig unverbindlich herumprobiert. Die Nutzung ist ins Belieben gestellt.

So weit die drei Vorbemerkungen, mit denen ich natürlich meine Fährten für die Analyse der Hochschulsituation ausgelegt habe. Ich möchte nun an die eben geäußerte Beobachtung anknüpfen, daß die Informationsgesellschaft nicht vollständig industrialisiert sei.

Von dem im 19. Jahrhundert voll einsetzenden Prozeß der Industrialisierung ausgenommen - und das heißt genauer: von der Demokratisierung, Technisierung und Ökonomisierung der Produktionsverhältnisse -, waren und sind bis heute die Berufe der Wissenschaftler. Diese Berufe zehren politisch parasitär von der sozialen Intelligenz der Energiearbeiter, insbesondere der Facharbeiter, die historisch neben Produktionsintelligenz auch Organisationsintelligenz ausgebildet hatten (vgl. Priddat 1996). Wissenschaftler tun gut daran zu lernen, daß Solidarität und Kooperation keine bloß moralischen oder politische, sondern funktionale Größen sind.

Die primitiven Produktionsverhältnisse unter den Wissenschaftlern sind ein außerordentlich bedeutsamer Sachverhalt. Dieser stieß aber bislang nur wenigen Gesellschaftstheoretikern auf, vermutlich weil sie selbst als "Geistesarbeiter" unter dem Eindruck stehen, daß etwas anderes als zunftartig organisiertes Kunsthandwerk in ihrem Produktionsbereich prinzipiell nicht möglich sei. Doch genau diese Unterstellung, daß ihr Tun nicht steigerungsfähig technisierbar sei, halte ich für ein Vorurteil. Meine Kernthese zur Krise des Wissenschaftssystems bezieht sich genau auf diesen Sachverhalt:

Der Einbau und das angemessene Benutzen moderner Informations- und Kommunikationstechniken setzt den Prozeß der Industrialisierung der Gesellschaft fort. Es sind die Computer verbindenden Computernetze, die die noch ausstehende Industrialierung im Bereich der Informationsverarbeitung derzeit unwiderstehlich durchsetzen.

Mit einem Netzanschluß verwandelt sich ein PC von einem Werkzeug in eine Informations- und Kommunikationsmaschine. Rechnet man die historische Erfahrung hoch, die anhand der Folgen der Dampf- und Werkzeugmaschine gemacht wurden, so führt die derzeit anstehende Technisierung des akademischen Arbeitsplatzes vermutlich zur Modernisierung der primitiven Sozialverhältnisse im Wissenschaftssystem. Und damit zu einem dramatischen Produktivitätsschub. Historisch würde erst auf einem gesellschaftlich durchindustrialisierten Niveau mit dem Diskurs einer Scientific Society (gemeinhin spricht man vollkommen zu Recht noch immer von der Scientific Community) auch tatsächlich ernstgemacht. Seit dem Abdanken Gottes als Wahrheitsinstanz ist ein demokratisch verfaßter wissenschaftlicher Diskurs nichts weiter als eine wissenschaftstheoretisch unumgängliche Forderung - aber noch immer keine Praxis. Um jedes etablierte wissenschaftliche Publikationsmedium sind die Claims abgesteckt. In ihnen muß man sich politisch hochdienen. Das Wissenschaftssystem kann den vollen Leistungsumfang moderner Informations- und Kommunikationstechniken solange nicht nutzen, solange die Sozialverhältnisse und das Selbstverständnis von WissenschaftlerInnen als Kunsthandwerker insbesondere in den Hochschulen (aber auch vielen Verlagen und Kultusbehören) vormodern sind. Und solange die sozialen und psychologischen Verhältnisse vormodern sind, solange befindet sich das Wissenschaftssystem in einer Krise.

Wie vormodern das gesamte Wissenschaftssystem und insbesondere die Hochschulen derzeit verfaßt sind, läßt sich an drei Indikatoren ablesen:

  1. Zwischen Autoren und Verlagen, zwischen Wissenschaftlern und Kultusbehörden sowie insbesondere an den Hochschulen gelten zunftartig-patriachale Sozialverhältnisse. Das soll heißen, daß innerhalb der Hochschulen z.B. nur feste Weisungs- und Ausbeutungshierarchien möglich sind, die sich bloß ständisch legitimieren müssen.

    Während sich Auszubildende in Handwerksbetrieben seit spätestens Ende der 70er Jahre etwa gegen Hoffegen und Autowaschen des Meisters wehren und zumindest auf eine angemessene Entlohnung drängen können, müssen sich die niederen Ränge an den Hochschulen als langsam erblindende Kopisten verdingen. Der Mangel an Kooperation an den Hochschulen führt zur Verschwendung von Unmengen an Intelligenz durch Brachliegenlassen. Ökonomisch und technisch gesehen funktionieren Hochschulen gemessen an ihrem Personalstand mit einem atemverschlagend schlechten Wirkungsgrad. Statt auf die Entwicklung von Maschinen mit künstlicher Intelligenz zu setzen, möchte man dringlich empfehlen, erst einmal angemessener mit der vorhandenen Wetware, also der massenhaft vorhandenen natürlichen Intelligenz an den Hochschulen, umzugehen.

    Außerdem kommt hinzu, daß die Diskurse nicht funktionieren. Das wissenschaftliche Kapital, das es derzeit zu mehren gilt, besteht zunftangemessen noch immer aus Reputation, Ehre und Prestige. Zeitschriften und Bücher dienen nicht dem Streit um das bessere Argument, allenfalls dokumentieren sie diesen, sondern Zeitschriften dienen als Reputationsspender. Ja, statt Geld für eine Publikation zu erhalten, muß man als Autor immer mehr dafür bezahlen, publizieren zu dürfen, um an akademische Reputierlichkeit zu gelangen. Es besteht ein ganz feines Gespinst von reputierlichen Verlagen, Redaktionen und Autoren. Weniger Reputierliche müssen um Gnade ersuchen, Höherrangige gewähren sie milde oder schmettern unbarmherzig ab - alle taxieren einander primär über Reputationsgewinn oder Reputationsverlust.

    Die beständig vollkommen berechtigt diagnostizierte Praxisferne der Hochschulausbildung wäre in einer rein wissenschaftlichen Perspektive dann kein Problem, wenn dann jedenfalls die wissenschaftlichen Diskurse für sich funktionierten. Doch die Diskurse werden nur noch machtpolitisch verwaltet oder sie sind relativ zu anderen sozialen Systemen nicht leistungsfähig genug oder sie kommen gar nicht erst zustande.

  2. Das Selbstbild vom freien Wissenschaftler orientiert sie am genialischen Kunsthandwerker, der primär sich selbst als Quell der Erkenntnis und den Diskurs im besten Falle als Anreger wahrnimmt. Ein Kunsthandwerker ist psychisch regelrecht unfähig, arbeitsteilig in einem formal gleichberechtigt strukturierten, ergebnisorientierten Team zu arbeiten. Er beansprucht einfach Ganzheitlichkeit in der Produktion. Die Universitäten beherbergen launische Diven. Werden in dieser Umgebung Sozialisierte außerhalb des Wissenschaftssystems zur arbeiteiligen Teamarbeit gezwungen, erleben sie dies als Praxisschock. Zu kooperieren, wie es Mitgliedern modern strukturierter Teams geläufig ist, ist mit dem an den Hochschulen gezüchteten Individualismuskult einerseits bei gleichzeitig fraglosem Unterwerfen unter höhere Autorität andererseits unvereinbar. Wissenschaftler können nicht kooperieren, weil sie es in den Wissenschaftszünften nicht lernen müssen mit der Paradoxie der Kooperation, nämlich zugleich zu führen und geführt zu werden, umzugehen.

  3. Die Herstellung, Verarbeitung und Verbreitung wissenschaftlicher Publikationen geschieht auf niedrigem technischen Niveau. Mein Bioladen verfügte etwa vier Jahren vor meinem Institut über ein Faxgerät, auf das auch heute außer Professoren praktisch niemand sonst zugreifen darf.

    Für Textverarbeitung einen PC zu benutzen, dann und wann E-Mails zu empfangen/ verschicken oder auf CD-ROMs zu recherchieren, besagt noch nichts über den tatsächlich vorhandenen Technisierungsgrad der Produktion/ Konsumtion und vor allem der Zirkulation wissenschaftlicher Publikationen! Nach wie vor wird etwa von den Mathematikern und Physikern in den USA, die am weitesten in der Nutzung des Internet als Publikationsmedium fortgeschritten sind, nichts ins Internet hineingestellt, ohne nicht zugleich einen Artikel ganz herkömmlich in einer papierenen wissenschaftlichen Zeitschrift zu veröffentlichen. Wissenschaftliche Dignität und Relevanz ist noch immer ganz fest an das Papiermedium gebunden, weil das Papiermedium klassisch zunftgemäß verwaltet wird. Durch den Zugriff auf das Papiermedium wird Wissenschaftspolitik gesteuert; die Vorstellung von der genuin wissenschaftlichen Orientierung am seltsamen Zwang des besseren Arguments gilt als romantisch, obwohl ein derartiger Diskurs tatsächlich ganz kalt die funktionale Bedingung für die Existenz von Wissenschaft ist.

    Wissenschaftliche Publikationen durchlaufen derzeit mehrfach Medienbrüche zwischen papierener und digitaler Form, allein wie gesagt aus standespolitischen Gründen. Diese Medienbrüche zwischen Papierform und digitaler Form bremsen die Zirkulationsgeschwindigkeit von Publikationen im Diskurs herunter, wodurch der mögliche Wirkungsgrad der wissenschaftlichen Informationsverarbeitung drastisch verschlechtert wird.

    Allein die Produktion eines wissenschaftlichen Buches dauert heute gut und gern ein halbes Jahr. Die Deutschen Howaldtswerke Deutsche Werft AG bei uns in Kiel bauen in der selben Zeit ein 200 Meter langes Containerschiff. Entsprechend dieser geringen Produktivität verfallen Konservative durchaus berechtigt auf die Forderung, Hochschulen in höhere Berufsschulen verwandeln zu wollen, um überhaupt nur irgendeinen Nutzen noch aus den Hochschulen ziehen zu können. Der Verweis, daß geistige Arbeit aber nun einmal Zeit brauche und nicht so einfach planbar sei, überzeugt immer weniger, obwohl er selbstverständlich zugleich stimmt. Das Problem hierbei besteht nicht in der Zeit, die man zum Recherchieren, Nachdenken und müßig-spielerischem Flanieren über die anzuordnenden Beobachtungen und Argumente selbstverständlich immer braucht, sondern sie besteht in den Organisationsformen des geistigen Arbeitens!

Rein ökonomisch und technisch gesehen spricht seit Jahren schon nichts mehr dagegen, Disketten, CD-ROMS oder natürlich Computernetze als Transportmedien für wissenschaftliche Publikationen zu benutzen. Ein Leser könnte dann eine Publikation sofort und ohne mönchsgleiches Abtippen von Zitierwürdigem weiterverarbeiten. Statt dessen muß ein Leser viel Aufwand betreiben, um per Scanner und OCR-Software die Texte aus den Zeitschriften, die ihrerseits ja am PC bereits erfaßt wurden, wieder Computer-weiterbearbeitbar zu recyclen.

Wenn kein Medienbruch mehr zwischen digitaler Produktions- und papierener Konsumtionsform nötig wäre, weil die PCs der Produzenten, der Verlage und der Leser an Computernetze angeschlossen sind und diese Netzdienste dann auch durchgängig genutzt würden - was aber wie gesagt veränderte Sozialverhältnisse im Wissenschaftssystem voraussetzte - dann wäre aus dem PC ein Bestandteil einer universalen Datenverarbeitungsmaschinerie geworden. Dann bewegte sich der wissenschaftliche Diskurs nicht mehr nur in den zwei Dimensionen, die das Papier vorgibt, sondern zusätzlich in einer symbolisch-technisch zugänglichen Dimension.

Das Eröffnen dieser dritten Dimension durch Computernetze hat ungeheure Folgen, denn die technische Bezugnahme von Texten auf Texte hätte ihren Ort in dieser dritten Dimension gefunden, Textbezüge könnten in diesem Diskurs-Raum selbst noch mit einer eigenen Grammatik formuliert werden. Vernetzte Texte würden - und das ist eine hochdramatische Folge - weitgehend automatisch bearbeitbar (vgl. die Überlegungen zu einer Diskurs-Markup-Language, Rost 1996b). Das hat mit Künstlicher Intelligenz noch gar nichts zu tun. Vielmehr ist die Entwicklung bereits absehbar in Form der Search-Machines im World-Wide-Web oder den Personal Agents und Robots. Diese Maschinen erzeugen, obwohl sie selbst ganz trivial technisch operieren, aus bestehenden Texten neue Texte, die für die Nutzer einen Sinngewinn mit Neuigkeitswert abwerfen. Dies geschieht, weil im Computernetz Computer Computer beobachten können, wie diese Computer beobachten. Aber wie gesagt: Die Nutzung solcher Filterungs- und Bearbeitungsmaschinen setzt ein durchgängig digitales Kommunikationsmedium für den wissenschaftlichen Diskurs voraus, was wiederum modernisierte Sozialverhältnisse im Wissenschaftssystem voraussetzte. Und von diesen sind wir wissenschaftspolitisch noch weit entfernt.

Desweiteren - und womöglich noch wichtiger als die teilautomatisierte Textverarbeitung und das Textfiltern durch Maschinen - ist die Möglichkeit, daß fortan Texte in Teamarbeit kollektiv erarbeitet werden können (vgl. Johansen 1988). Ergebnisorientierte, maschinell gestützte Kollektivproduktion ist in anderen Bereichen der Gesellschaft seit mindestens 200 Jahren üblich - ich erinnere an das Containerschiff. Mit Papier als Kommunikationsmedium war Teamarbeit an Texten entweder mit einer nur groben Arbeitsteilung oder mit dermaßen viel Zeitaufwand verbunden, daß der zusätzliche Intelligenz-Gewinn, der durch Teamarbeit erzeugt werden sollte, durch die Verwaltung wieder aufgezehrt wurde.

Mit der Kollektivierung der Arbeit auch im wissenschaftlich-geistigen Bereich wird es nun aber zunehmend schwierig, die formal eindeutig hierarchischen Strukturen an den Hochschulen durchzuhalten (vgl. Sproull/ Kiesler 1992). Ein alter Konflikt tritt dann in etwas veränderter Form wieder zutage, nämlich: Wie wird geistiges Eigentum zugerechnet? Wer darf was aus welchem Grunde beanspruchen? Und kann es so etwas wie geistiges Eigentum überhaupt geben? Wieder gerät ein politökonomischer Klassiker ans Tageslicht.

Seit Ende der 80er Jahre wird verschärft an der maschinellen Unterstützung intellektueller Teamarbeit gearbeitet. Diese Software-Gattung wird als Groupware oder Computer-Supported-Collaborative-Working (CSCW) bezeichnet. Fragen Sie doch mal außerhalb der Informatik-Institute, wie es an den Unis um den Einsatz von Groupware bestellt ist!

Übrigens werden auch die Funktionen des Managements, sei es die Führung kleiner Projektteams oder ganzer Konzerne, durch die modernen Kommunikationstechniken trivialisiert und deren Funktionen werden meßbar, womit Manager der Legitimation für ihre opake Position (und Vergütung) enthoben sind. Wer im Management dann statt auf Entscheidungstechniken auf seinen guten Riecher setzt, ist kein Manager, sondern ein Hasardeur. Hier träte der Konflikt, daß Manager nicht unbedingt besonders klug sind und deshalb die Verantwortung tragen, sondern schlicht nur die Macht innehaben, glasklar zutage. Moderne Kommunikationstechniken verbessern ökonomisch den Wirkungsrad von Organisationen und setzen dabei sämtliche Entscheidungen unter einen Begründungszwang, wie auch etwaige Versuche, Kommunikationen genau aus diesem Grunde einzuschränken.

Zum Ende meiner Anmerkungen möchte ich die politisch maßgebliche Frage stellen: Wie ließe sich die Krise des Wissenschaftssystems am aussichtsreichsten beheben? Meine Antwort ist systemimmanent: Durch Steigerung des Wirkungsgrad der wissenschaftlichen Diskurse. Denn an Wahrheit orientierte Diskurse führbar zu machen, ist die spezifisch gesellschaftliche Funktion des Wissenschaftssystems.

Konkret hieße das: Einsatz moderner Kommunikationstechniken sowie Demokratisierung der Hochschulorganisationen, was aus meiner Sicht ohnehin einen Zusammenhang bildet. Ziel ist die Etablierung des wissenschaftlichen Diskurses, der sich weder extern an Kapital- noch an Politik- noch an moralischen oder religiösen Interessen bemißt und der auch intern nicht durch technikphobe unterkomplexe Zunft-Verhältnisse ausgebremst wird (vgl. die Polemik von Baltes 1997). Eine bloß radikale Ökonomisierung der Hochschulen, ohne weitere soziale Veränderungen, behebt die Krise nicht. Im Gegenteil: Eine radikale Ökonomisierung allein entmutigte den wissenschaftlichen Diskurs vollends, weil es dann nur noch darum gehen kann, Informationsvorsprünge, und seien diese noch so klein, nicht dem Diskurs auszusetzen, sondern sie ökonomisch oder politisch auszubeuten. Wissenschaftlich Relevantes würde bestenfalls als Abfallprodukt übrigbleiben.

Dabei ist gerade eine tatsächlich funktionierende, politisch und ökonomisch unabhängige Wissenschaft ökonomisch und politisch hochinteressant. Dies zeigte sich beispielsweise besonders deutlich an den vielen Gutachten um Gorleben, bei denen es am Ende tatsächlich wissenschaftlicher, also am Wahrheitsdiskurs orientierter, Gutachten bedurfte. Trotzdem ist eine stärkere auch ökonomische statt bloß zunftpolitische Orientierung wissenschaftlicher Forschungen unumgänglich. Denn die ökonomische Orientierung hätte ebenso wie der Einbau moderner Kommunikationstechniken zur Folge, daß die kognitiv-intelligenten Kapazitäten der Studierenden nicht mehr brachlägen. Genau wie in Handwerk und Industrie schon haben Auszubildende auch im Wissenschaftsbereich Anspruch auf einen Ausbildungslohn. Es ist so gesehen vollkommen absurd, von Studierenden die Zahlung von Studiengebühren zu verlangen. Die Entscheidung in diesem Konflikt ist ein Indikator für die Modernität des Hochschulsystems.

An eine direkte, extern politische Reformierung des Hochschulsystems mag ich angesichts der vielen Bemühungen in den letzten 30 Jahren nicht mehr glauben. Viel plausibler scheint es mir dagegen, daß sich die Institutionen des Wissenschaftssystem nachhaltig durch die Nutzung moderner Kommunikationsstechniken überwiegend selbst verändern. Die externe Bildungspolitik als gesellschaftliche Regelungsgröße kann diese ohnehin endogen stattfindenden Veränderungen allerdings dadurch zusätzlich beschleunigen - oder in einer konservativen Ausrichtung natürlich auch abbremsen -, indem sie den Einbau der Kommunikationstechniken und dann vor allem die Schulungen der Anwender an den Kommunikationsmaschinen erleichtert bzw. erschwert.

Womöglich muß ich versichern, daß es mir hier nicht darum geht, Technik affirmativ abzufeiern, weil sich sowieso nichts mehr an der technischen Dynamik verändern läßt. Technik ist aus meiner Sicht ein Katalysator für Veränderungen der Organisationsformen im Wissenschaftssystem. Auf die Negativseite des Einbaus von Kommunikationstechniken angesprochen, möchte ich von einem Zwang zur Kreativität sprechen. Nur wenn stupide Fließbandarbeit die Alternative darstellt, kann das Kreativsein als attraktiv und wünschenswert erscheinen. Vielleicht ist es noch undenkbar, aber ich vermute, daß wir uns zukünftig häufiger Routine wünschten. Ich befürchte, fortan müssen wir alle kreativ sein, weil der enorme Kreativitätsdruck, wie er sich in einigen Bereichen ja bereits durchgesetzt hat, auch die erfassen wird, die bislang mit Routine bewältigt wurden. Routinearbeit wird immer unwahrscheinlicher. Sobald sich Routinen abzeichnen, wird die Maschine zum Konkurrenten, wie man an der Automobilindustrie sehen kann. Wir müssen deshalb sehr grundsätzlich neue Formen für die Paradoxie finden, gezwungermaßen spontan und kreativ zu sein.

Dieser Entwicklung den psychosozialen Druck zu nehmen könnte dadurch gelingen, indem die soziale Integration und die psychische Selbstachtung von Arbeit auf Spiel umgestellt würde. Schließlich bedeutet, daran möchte ich erinnern, die Industrialisierung der wissenschaftlichen Produktion zugleich die Vollendung des Projekts der Industriellen Revolution für die Gesellschaft insgesamt. Und mit dieser Vollendung könnte auch die Arbeit im traditionellen Sinne als sozialer und psychischer Sinnstifter ausgedient haben. Im Bereich der Wissenschaft scheint mir eine Umstellung von Arbeit auf Spiel kulturell noch relativ leicht möglich, im Ruhrgebiet oder in der Umgebung von Bitterfeld würde man für diese Anmutung vermutlich als praxisferner Spinner tituliert.

Schlußbemerkung: Es wäre naheliegend, daß man sich in diesem Zusammenhang in den nächsten Jahren an einen Vorschlag erinnern wird, von dem bei Andre Gorz Anfang der 80er Jahre (vgl. Gorz 1983) und etwas später bei einigen Grünen und besonders eindringlich durch Oskar Lafontaine die Rede war. Es ging damals, im Zusammenhang mit Maschinensteuer und Sonntagsarbeit wegen dauerlaufender Maschinen, um die allgemeine Grundversorgung und Bürgergeld (vgl. Vobruba 1990). Dies ist ein programmatisches Thema der "reflexiven Moderne", das rechtzeitig auch öffentlich wieder zu besetzen ich der SPD strategisch dringend empfehlen möchte. Historisch gesehen ist dies nämlich ihr Thema.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


2 Literatur

  • Baltes, Paul B., 1997: Wider die Gerontokratie - Das Ritual des Habilitierens verhindert, daß junge Forscher flügge werden; in: Die Zeit 1997/ 04/ 04: 34

  • Cummings, A. et al. 1992: University Libraries and Scholary Communication: A Study Prepared for the Andrew W. Mellon Foundation, Association of Research Libraries, Washington DC (elektronisch verfügbar via URL: 'gopher://arl.cni.org', dort im Menü: 'Scholary Communication')

  • Giesecke, Michael, 1990: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main: Suhrkamp

  • Giesecke, Michael, 1992: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel - Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp

  • Gorz, Andre, 1983: Wege ins Paradies, Berlin

  • Johansen Robert, 1988: Groupware: Computer Support for Business Teams, New York: The Free Press

  • Priddat, Birger P. (Hrsg.), 1996: Arbeits-Welten - Forum für Dimensionen und Perspektiven zukünftiger Arbeit, Band 1, Marburg: Metropolis-Verlag

  • Rost, Martin, 1996b: Vorschläge zur Entwicklung einer Diskurs-Markup-Language; in: Heibach, Christiane/ Bollmann, Stefan (Hrsg.), 1996: Kursbuch Internet - Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur: Bollmann-Verlag (elektronisch verfügbar via URL: http://www.maroki.de/pub/sociology/mr_dml.html)

  • Sproull, Lee/ Kiesler, Sara, 1992: Connections: New ways of working in the networked organization, Cambridge Massachussets: MIT Press

  • Vobruba, Georg, 1990: Strukturwandel der Sozialpolitik - Lohnarbeitszentrierte Sozialpolitik und soziale Grundsicherung, Frankfurt am Main: Suhrkamp

  • Wiiers, L., 1994: A Vision of the Library of the Future; in: Geleijnse, H./ Grootaers, C. (eds.), 1994: Developing the Library of the Futur - The Tilburg Experience; Tilburg University Press, S. 1-9